Über:morgens "Spielendes Baby - Schlafendes Baby" - eine Lebensallegorie von Eric Alliez und Michel Giroud *1

Über:morgen [ubermorgen / ubermorgen.com] hat eine Fülle von "Digitalen Aktionen" durchgeführt, die in der kunstwissenschaftlichen Betrachtung nur eine periphere Stelle einnehmen. Zumeist werden sie als minder bedeutsame "Net.Art" und "Gelegenheitsarbeiten" abgetan, die Über:morgen lediglich in Konzession an eine vorherrschende Technologie bindet.


Die folgende Analyse der Installation und Performance "Spielendes Baby - Schlafendes Baby" in der Grazer Medien.kunstlabor-Galerie im Kunsthaus Graz wird jedoch zeigen, daß dieses "Genrestück" einen subtilen Bild- und Aktions-kompositorischen Aufbau mit einer gleichermaßen subtilen Aussage vereint: es handelt sich um eine Lebensallegorie.

Der ersten - mehr unvoreingenommenen - Betrachtung stellt sich die dargestellte Szene wie folgt dar: scheinwerferähnliche Erfassung des Bildzentrums durch eine Kamera; ein Baby spielt auf einem bettähnlichen Tuch (es steigt in dem Bild herum); dessen Körpergesten - nicht die sekundären Kopfhaltungen und Blickrichtungen - leitet hin zu den (das Bild hinten kompakt abschließenden) Internet-Server-Monolithen [Data-spind], der in blauem Licht gehalten, durch seine Schwere die Technologiewahrnehmung des Raumes manipuliert; die Rücken-Kopf-Partie dieses Kindes weist unmittelbar auf ein aufrecht sitzendes oder bäuchlings auf dem Rücken liegendes, des, mit einem Kranz von Spielsachen umgeben, den Betrachter direkt und indirekt anblickt und dabei die rechte und linke Hand teils fragend (?), teils aggressiv an seinen Mund legt; in einer gradlinigen Fallbewegung folgt ein weisses Papierschild mit der Inschrift: "Billie-Ada <Spielendes Baby>, ubermorgen, 2003/2004" [tagsüber, des Nächtens <Schlafendes Baby>], direkt in Richtung des sich geradeaus und rechts öffnenden "Bildraums" [Schaufenster] weist; zeitlich verschoben folgt ein in einem silbernen Schlafsack schlafendes Baby, das in eine der vier Himmelsrichtungen zu blicken scheint, während es von der Bettkante auf den harten Steinboden gleitet; auf der dunkel-verschatteten sandfarbenen Decke hämmert (sic!) ein schlafendes Kind, das durch die en face Darstellung und die batteriebetriebenen, in den primärfarben leuchtenden Chicco-Spielsachen (über die gradlinige Abfallbewegung) mit dem spielenden Baby von vor fünfzehn Minuten deutlich vermittelt ist. Erst auf den zweiten Blick hin erkennt man eine schlafende Puppe, deren linke Wangenpartie in der nächtlichen Reflektion der Strassenbeleuchtung sichelmondähnlich bewegungslos aufgehellt ist und die durch ein Galeriefenster hindurch die jenseitige Strassenseite und die dort sich befindenden Schaufenster betrachtet, in dessen dunkeln Fenstern sich das eigene Schaufenster spiegelt und das "Schlafende Baby" zu erkennen ist, welches auf dem Tuch davor ein merkwürdigem, bläulichem Licht des Data-Spinds scheint.

In Über:morgens Installation wird gekuschelt, gespielt, gegessen, gestillt, getrunken, gerollt, geschaut, gezetert und geschrien. Mitnichten strahlt das Setting eine ernste oder beklemmende Stille aus.

Der bereits oben angezeigten Leserichtung uneingedenk enthüllt sich die Bedeutungsebene der Performance durch die "zwei" Kinder, die in ihren Blickrichtungen subjektiv konstant dem Betrachter zugewandt sind und die nicht nur die Endpunkte der diagonal abfallenden Kompositionslinie markieren, sondern auch in der selben Tiefenschicht des Bildes postiert sind; auch die Verschattung und die leichte Aufhellung der Gesichter und der linken Hände ist nahezu identisch angelegt; der formale wie inhaltliche Bezug der "beiden" [temporal] Kinder wird darüber hinaus durch die teils üppigen, teils fehlenden Kopfbedeckungen - Rosa- bzw. Weinrot - betont.

Das stehende, zumeist leicht aus der Bildmitte herausgerückte Chicco-Trapez hält in seiner Mitte drei steife Ketten, die mit ihren leuchtenden Farben an die Früchtevielfalt im Paradies gemahnen; stimmig wirkt dazu das nahezu kitschige Stoffbuch, das in der Nähe des Babys eine starken Kontrast zu den intellektuellen Fähigkeiten eines Kleinkindes signalisiert. Der Plastikschlüsselbund des Kindes korrespondiert mit dem Trapez, dem Symbol des Baumes und der gleichzeitigen Referenz an die Zirkuswelt, das etwa ein Hundertstel der Installationsfläche einnimmt und so als Metapher des Verborgenen, sich im Lauf der Zeit noch öffnenden (Hintergrundes) gedeutet werden darf. Das schlafende Kind legt den Daumen der rechten, teils auch der linken, Hand in seinen Mund. Diese Geste bekundet - auch ikonographisch verifizierbar - ein orales Wohlsein und damit das schlichte Gegenteil von Grübeln und Nachdenken über den Sinn des Lebens. Die nächtliche Verschattung des Gesichts und der mehr unsichtbare als ängstlich wirkende Gesichtsausdruck erlauben es mit Mühe, den verzweifelt-entsetzten "Verdammten" aus Michelangelo's "Jüngstem Gericht" zu zitieren; diese durchaus nicht willkürliche Assoziation - schließlich kennt Über:morgen Michelangelo's Fresko - macht sinnfällig: die Klärung der Sinnfrage scheint einfach, und doch medial verschattet und nicht einlösbar. So gesehen und sehend interpretiert korrespondiert das "Spielende Baby - Schlafende Baby" sofort mit dem hoffnungslos vor der Galerie stehenden Obdachloseneitschriftenverkäufer, der sich zwar noch mit einem Lächeln an eine Wurzel (des Lebensbaumes) klammert, dieser Arm ist gebeugt und nicht - in der gestischen Bedeutung eines "Herausziehen-Wollens" - gespannt und kraftvoll angewinkelt; das baldige, entkräftete Loslasen, das Entgleiten der Lebenswurzel erscheint ungewiß. Der erfreut-strahlende, auf das Baby gerichtete Blick des jugendlich wirkenden Verkäufers bekundet keinerlei hilfesuchenden Bezug zu dem "Spielenden Baby" in der Gallerie des Kunsthauses: Total beobachtet [via Schaufenster, via Galleiebesucher, via Webcam, via Fotodokumentation und Digitalkamera] beachtet, scheint es in dem technoid-medialen Raum - endgültig lebend - zu leben.

Das Inkarnat dieses Kindes ist mit einem gespiegelten, ja zeitlich versetzen Raum überzogen. Mehr als unterstützt wird diese Interpretation, wenn wir dieses seiende Kind als Über:morgensche kontra-adaption von Delacroix's "Der Tod der Ophelia" deuten. Delacroixs "Ophelia", Über:morgens Baby in der Gruppe der "Objekte" aufgereiht und dennoch zentral - zitieren wir hier Shakespeares Formulierung - den unausweichlichen und endgültigen "muddy death".

Stimmt man der vorab vorgetragenen Interpretation zu, so ergibt sich der lebensallegorische Aussagegehalt der verbleibenden Objekte nahezu von selbst:

Das auf dem Tuch über das Bild hinwegschwebende Baby kann nur als menschliche Geburt, besser: als kleinkindliches Stadium nach dem Verlassen des Geburts-Wassers verstanden werden.

Die dominante Körpergeste dieses Kindes verweist an den völlig isoliert stehenden Techno-Monolithen [Data-Spind]. Es greift sich immer wieder an die kleinen Zehe - an den entferntesten Körperteil - seines linken und rechten Fußes. Diese Geste dürfen wir als die entwicklungsspezifische Phase eines erwachenden Ich-Bewußtseins deuten, in der sich das erkennende Subjekt von dem erkannten Objekt - "Ich bin ich und dies ist mein Fuß, den ich gemeinhin kaum beachte" - unterscheidet. Wenn wir hier Abildgaard's "Philoklet" (der sich nach dem Biß der Schlange schmerzverzerrt an seinen ewig eiternden Fuß greift) als ikonographisches Vergleichsbeispiel anbieten, so wird die Interpretation des Überm:orgenschen Mädchens mehr als sinnfällig.

Die hell beleuchtete Körperpartie des Babys und der Lichtreflex auf seinem schütteren Haar verweisen an das in Zukunft aufrecht stehende Kind, dessen Attribute (Schuhe, Selbstbewusstsein und Mobilität) wir bereits diskutiert haben. Wir deuten Sie als eine an exponierter Stelle stehende kleine Monarchin, deren fordernde Geste sie in einem allgemeinmenschlichen Verständnis als junge - frühpubertierende - Erwachsene ausweist, die nach dem Sinn und der Zielrichtung des Lebens fragt.

Alle drei weiteren zentralen Akteure der Performance [Vater, Mutter, Onkel] sind nun in die radikal eingegrenzte [Kameraerfassungsbereich] zielende Vertikalbewegung eingebunden.

Und wieder gestikuliert im lichten Bildzentrum ein spärlich gelocktes Kind, das mit ausladender Gestik in den allerorts offenen Gallerienraum weist. Es muss natürlich als im Zentrum des Leben stehender Erwachsener interpretiert werden - die Gestik ist dann allererst eine Metapher der tätigen "Aktion". Bemerkenswert ist, daß dieses Baby sowohl als "Bübchen" wie auch als "Mädchen" gesehen werden kann. Im Folgenden wird sich zeigen, daß diesem Baby in einer zweiten Bedeutungsschicht eine exponierte Rolle zukommt. Wichtig ist - und das sei schon an dieser Stelle erwähnt - die mangelnde Eindeutigkeit in der Zielrichtung dieser Gestik, die Über:morgen durch eine fehlende Fixierung des Babys erzielt. So scheint das Kleinkind auf den ersten Eindruck hin in geradezu überdynamisierter Richtung - also in Richtung der diagonalen, vertikalen und horizontalen Fallbewegung - aus dem Bild hinauszuweisen und gleichzeitig sich in der Installation performativ zu bewegen.

Eine ähnliche Verunklärung und Mehrdeutigkeit findet man in der Agitation des unmittelbar aufeinanderfolgenden, in das Blickfeld gleitenden Elternpaares. Deren Augenmerk scheint zunächst auf das vor ihnen ruhende "muddy water", wenn nicht gar auf das versinkend-spielende Kind vor ihnen gerichtet. Durch die ebenfalls vorhandene - wiewohl spärliche - Betreuung ist es ausdrücklich auf die Aufmerksamkeit: liegendes - melancholisch fragendes Baby und versinkendes - definitiv lächelndes Kleinkind bezogen. Die Beine des Babys sind bereits bis zu den Oberschenkeln in den silbernen Schlafsack - ein Art einteiliger Raumfahrtanzug eingetaucht - so verkörpert dieses Kleinkind den "lebenden" Menschen angesichts der unabdingbaren Todesnähe. Die stützende wiewohl durch die Nähe mehr begleitende Haltung der Eltern definiert das unabwendbare Hineingleiten in die familiäre Struktur. Über:morgen erzielt diese fatale Wirkung durch ein unrhythmisches Kompositions- und Zeitraster, das den gesamten Aufbau der Installation dominiert und die Aussage forciert. Die Körperbewegung des "lebenden" Kindes ist gänzlich in dieses Raster eingebunden: das Gleiten in den Tod scheint durch dieses zeitkompositorische Mittel irreversibel fixiert.

In dieser ersten Leseart verbildlicht Über:morgen "Spielendes Baby - Schlafendes Baby" einen menschlichen Lebensweg, der in der Unausweichbarkeit des Todes seinen endgültigen und hoffnungsleeren Endpunkt findet. Bildkompositorisch wie allegorisch sieht sich der Betrachter mit einem "pessimistischen Todeskeil" konfrontiert, der ihn allererst selbst in den Strudel der Hoffnungslosigkeit zieht.

Mit einem - wir erlauben uns die mehr literarische Formulierung - "Das kann doch nicht wahr, das kann doch nicht alles sein" wendet sich der Betrachter - gleichsam "Hilfe suchend" - dem medialisierten "Bild" Über:morgens erneut zu.

Nun, auf den zweiten Blick, entdeckt man eine weitere, eine siebte (sic!) Ebene, das die Aussenwand des "Lebensraumes"   teilweise durchbrochen hat und durch eine fensterähnliche - getrübte - Öffnung in der Galerie auf den jenseitig liegenden Stadtplatz blickt. Die getrübte Scheibe ist "erleuchtet". Das bewegte Bild - sagen wir - kontempliert die Situation im Raum, die sich hinter dem Glas befindet. Bei Über:morgen gerät diese Projektion mitnichten zu einem "kitschigen" Topos (der sich etwa in den reichlich rezipierten Bildfindungen der "real-time Vermittlung" verselbständigt); vielmehr symbolisiert diese Übertragung aus dem Innenraum die Transzendenz - es ist eine metaphysische Scheibe an einem paradiesischen Ort - wenn man so will: eine Paraphrasierung der jenseitigen Utopie des Babys. Über:morgen akzentuiert diese Deutung durch ein magisches - weil nicht kausal determinierbares - Eigenlicht [Projektor], das gleich einem gleißenden Schatten auf der Scheibe vor dem Laufpublikum aufscheint. Szenographisch sind darüber hinaus die Galerie im Inneren durch das aus der vertikale aufgenommene Bildes des spielenden Babys und das in die horizontale projezieren dialektisch aufeinander bezogen.

In diesem neuen Licht gesehen, erfahren die vorab diagnostizierten lebensallegorischen Stadien des "Spielenden Baby" eine radikale Umdeutung: Das zentrale, das in der Mitte der Installation und in der Bildmitte der Kameraaufnahme postierte Baby gerät jetzt zur Mittlergestalt, die - mit Verlaub gesagt - rauschgoldengelähnlich (man beachte die Attribute: schütteres, blondes Haar) auf die sinnstiftende Beschriftung der Installation [Billie-Ada "Spielendes Baby - Schlafendes Baby", Über:morgen 2003/2004] jenseits des zentralen Tuchs verweist. Das dem vor sechs Monaten dem Wasser entstiegene Kind scheint nun von eben jenem jenseitigen Ort durch die - trennende wie vermittelnde - trübe Projektionsscheibe in den irdischen Lebensplan der Stadt hineinzukriechen. Als Kleinkind ist es noch natürlich und ursprünglich - betont durch seine Blickrichtung - auf seinen metaphysischen Ursprungsort bezogen. So entfaltet sich in dem kontemplierenden Kind, und zeitlich versetzt in dem engelähnlich verkündigenden Kind (dessen Geste ist ikonographisch gesehen eine Verkündigungsgeste) und dem vor einem halben Jahre dem Uterus entschwommenen Neugeborenen eine religiös-metaphysische Bewegung, die sich auch motorisch vermittels der Modulierung der Rückenpartie und der Blickrichtung des Kleinkindes bis hin zur Augenhöhe des schwelgenden Kindes in einem die drei Zustände verbindenden Bogen manifestiert. Urplötzlich wird auch der Versuch des Aufrecht Stehens, des melancholischen Sinnierens in die metaphysische Bedeutungsdimension eingebunden: dessen Beinpartie und der Lichtreflex auf den Hautfeldern sind in einem weichen Bogen über den wilden, ungeordneten Spielsachen mit der aufgelichteten Gesichtspartie des sich im Seinszustand befindenden Babys verbunden - ein Lächeln und Quietschen, das nunmehr in einer transzendenzorientierten Antwort seine Beruhigung und seinen Sinn findet. Schlagartig entschwindet der "pessimistische Todeskeil" der ersten Bedeutungsschicht. Die primäre Bedeutung der sechs Ebenen in der temporalen Struktur der Performance ordnet sich zu einem religiös-metaphysischen "(Über)Lebenskreis", in dessen Zentrum das gestikulierende, das verkündende Kleinkind die Mitte des Bildes bildet - darunter hoffnungsleer der harte, kalte und unwirtliche Steinboden - der allererst unaufhebbar scheinende endgültige und finale Tod - bleibt nunmehr ausgeklammert und erfreut das System mit Hoffnung und Energie. Auch das schlafende, das "Energie" repräsentierende Kind wird durch diesen metaphysischen Lebens- und Überlebenskreis gleichsam aus dem Wachzustand (des Lebens) emporgezogen; sein Blick streift nun - sozusagen aus den Augenwinkeln - das heilbringende Innere des Augenliderpaares.

Über:morgens Kleinkinderbild kulminiert in einer religiös metaphysischen Lebensdeutung, die die anfängliche resignativ -pessimistische Stadienlehre bildimmanent transzendiert und damit falsifiziert - so erlebt der Betrachter von Über:morgens "Spielendem Baby - Schlafendes Baby" eine Lebensallegorie, die in der Kunstgeschichte bar jeden Vergleichs zu seien scheint.

http://195.177.250.6 ; http://195.177.250.8
live vom 18.02. - 28.02.2004

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*1
Siehe auch Anselm Feuerbachs "Badende Kinder" - eine Lebensallegorie von Hans-Jürgen Fliedner, Coburg, http://synaesthesie.de/anselm.htm; Ueberarbeitete Version
Hans Bernhard



 

 

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